Und weshalb man nicht unbedingt spirituell sein muss, um Veranstaltungen auf diese Art und Weise zu gestalten.
Wenn einem jemand „Carpe Diem“ oder „Lebe im Jetzt“ zuruft, dann hat die Person meist ein Faible für Spiritualität und ein bewusstes Leben. Mancher denkt sich jetzt, das ist sehr schön für diese Person. Fraglich ist nur, was das mit dem konzipieren von Events zu tun hat. Ich meine, mehr als man zunächst meint.
Für mich persönlich gab es einen entscheidenden Event, in diesem Fall eine Kunst-Performance, die mich gelehrt hat, wieso das Hier & Jetzt für Veranstaltungen so immens wichtig ist. Bezeichnenderweise trägt die Performance den Titel „The Artist is Present“. Diese Performance hatte eine Dauer von ganzen drei Monaten und fand im Jahr 2010 im Museum of Modern Art in New York statt. Marina Abramović hat oberflächlich betrachtet nichts anderes gemacht, als auf einem Stuhl zu sitzen und die Person, die sich ihr gegenübersetzte, anzuschauen. Das war alles. Es gab keinerlei Variation im Ablauf. Und das ganze drei Monate lang. Gegen Ende haben die Zuschauer vor dem Museum übernachtet, um sich eine Chance auf 15 Minuten auf dem Stuhl gegenüber von Abramović zu sichern.
Das Interessante an dieser stilistisch äußerst reduzierten Arbeit eröffnet sich, wenn man sie versucht zu analysieren. Für mich ist offensichtlich, dass sich der Erfolg ausnahmslos auf die Konzentration und die Präsenz der Künstlerin stützt. Sie erklärt in der gleichnamigen Dokumentation, die zwei Jahre später erschienen ist: „…Und wegen dieses Bewusstseinszustandes fühlen die Leute, dass etwas anders ist. In der Performance geht es nur um den Bewusstseinszustand. Die Zuschauer sind wie ein Hund. Sie spüren Unsicherheit und Angst, sie spüren, dass du nicht da bist. Es geht also darum, den Performer und das Publikum in denselben Bewusstseinszustand im Hier und Jetzt zu bringen.“
Diese Beeinflussung des Bewusstseinszustands ist natürlich das verbindende Element, das die Performance-Kunst und Events gemeinsam haben. Aber auch sonstige vergleichbare Settings, wie beispielsweise Theateraufführungen oder Konzerte beeinflussen den Bewusstseinszustand der Rezipienten. Und immer holen sie die Leute ins Hier & Jetzt, wenn sie als gelungen gelten. Ist es da nicht von besonderer Wichtigkeit, sich mit dem Element des Hier & Jetzt näher zu beschäftigen?
Die große Frage ist: Wie schaffen die das?
1. Beispiel: Etwas entwickelt sich unvorhersehbar
Bei narrativen Events, die eine Geschichte erzählen – also meist bei Theater- und Filmaufführungen – wird der Zuschauer vor allen Dingen dadurch ins Hier & Jetzt geholt, wenn sich etwas für ihn unvorhersehbar entwickelt. Die Umkehrung verdeutlicht das: Nichts ist langweiliger als ein Film, dessen Entwicklung man vorhersieht und der dann genauso abläuft. Denn dieser Film erzählt einem nichts Neues. Ist einem die Geschichte vorher auch nicht bekannt, so trägt man zumindest die Vermutung in sich. Und somit ist ein „angeregt sein“ oder auch ein Lernmoment durch eine neue Sichtweise nicht mehr gegeben.
2. Beispiel: Anreize schaffen, dass der Körper reagiert
Als zweites Beispiel könnte man ganz generell Reaktionen des Körpers auf eine Wahrnehmung als Indiz identifizieren, dass sich ein/e Zuschauer/in im Hier & Jetzt befindet. Muss man beispielsweise während einer Komödie lachen, dann kann man mit seinen Gedanken gar nicht woanders sein als bei der aktuellen komischen Situation. Aber auch wenn man den sprichwörtlichen Gänsehautmoment erlebt, sich also durch starke Emotionen die kleinen Härchen an den Armen aufstellen, ist man mit ziemlicher Sicherheit präsent. Es gilt also Anreize zu schaffen, die den Körper reagieren lassen und dadurch ihn – und somit auch den Geist – ins Hier & Jetzt holen. Die richtige Musik verhilft übrigens zu so manchem Gänsehautmoment.
3. Beispiel: Universelle psychologische Grundbedürfnisse werden befriedigt
Das dritte Beispiel halte ich persönlich für am interessantesten. Denn wie bei der Erfüllung von physiologischen Grundbedürfnissen wie Essen und Trinken sollte es auch zur Selbstverständlichkeit werden, dass man bei Events die psychologischen Grundbedürfnisse befriedigt. Wussten Sie, dass es die gibt? Die amerikanischen Psychologen Deci und Ryan definieren in ihrer Selbstbestimmungstheorie drei Begehren, auf die die Psyche immer wieder Appetit hat.
Es sind
- Das Bedürfnis nach Kompetenz und Wirksamkeit
- Das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung
- Das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit
Bedenkt man diese psychologischen Grundbedürfnisse bei der Konzeption eines Events, ist es ziemlich sicher, dass die Teilnehmer das Gefühl haben, dass es für sie um etwas geht. Dass es wichtig ist, dass genau sie genau jetzt genau hier sind. Und dann sind sie automatisch auch im Hier & Jetzt.
Wie kann das konkret auf einem Business-Event aussehen?
Das Bedürfnis nach Kompetenz und Wirksamkeit kann mittels interaktiver Elemente gestillt werden. Damit die Kompetenz und die Wirksamkeit aber auch tatsächlich angesprochen werden, ist es nötig, dass die Interaktion zum einen auf Augenhöhe stattfindet und die erarbeiteten Ergebnisse zum anderen auch eine Auswirkung haben.
Dem Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung wird sehr gut durch Wahlmöglichkeiten in der Agenda Rechnung getragen. Gerade „agile“ Formate wie BarCamps, Open Spaces oder auch FedEx Days geben den Teilnehmern die Möglichkeit, autonom Inhalte zu wählen oder sich sogar eigenständig einzubringen.
Für das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit sorgen oft Kleinigkeiten. Das können gemeinsame Sprach-Formeln – wie ein gelungenes Veranstaltungsmotto – sein, gemeinsam gelebte Rituale oder auch ein allgemein anerkanntes Ziel. Immer ist es ein Zeichen, dass man sich als Anhänger des gleichen sozialen Milieus begreift und dort auch Bestätigung erhält.
Nun eine abschließende Frage: Sind Sie noch da? Bei mir im Hier & Jetzt? Oder sind Sie in Gedanken schon bei der Konzeption Ihres nächsten Events?
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